Ich war mit einer Hartz-IV-Empfängerin zusammen und habe jedes Weihnachten versagt
Ich war viele Jahre mit einer Frau zusammen, die aus einer armen Familie kam. Ihre Eltern gingen putzen, Regale einräumen, lieferten Pakete aus, bis sie in Hartz-IV abrutschten.
Als sie volljährig war, zog sie aus, um sich selbst durchzuschlagen. Mit einem Mix aus Schüler-Bafög, Hartz-IV und Aushilfearbeiten hielt sie sich über Wasser. Wir lernten uns im Studium kennen. Sie lebte damals von Bafög und weil das in einer teuren Stadt wie München nie ausreicht, auch weiterhin von Gelegenheitsjobs.
Wir kamen in einem November zusammen, kurz danach habe ich das erste Mal versagt.
Mit jemandem zusammenzuleben, der es gewohnt war, mit einem Minimum an Geld auszukommen, ist anders. Das zeigte sich besonders an Weihnachten.
Ich habe selten Probleme, Geschenke auszusuchen, doch jemanden zu beschenken, der so anders mit Geld umgeht, war eine Herausforderung, an der ich nur scheitern konnte.
Fünf Jahre waren wir zusammen und jedes mal habe ich es an Weihnachten versaut.
Ich weiß, was ihr jetzt denkt. An Weihnachten geht es doch nicht ums Geld. Es geht darum, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt. Das größte Geschenk ist, dass man Zeit miteinander verbringt.
Das habe ich früher auch gedacht. Bei vielen Menschen ist es auch so. Doch dabei handelt es sich um eine Denkweise, die man sich erstmal leisten muss.
Armut ist nicht nur der Mangel an Geld
Was ich in der Zeit mit meiner ehemaligen Freundin gelernt habe, ist das Armut einen nicht verlässt. Armut ist nicht nur der Mangel an Geld. Armut ist ein Stigma, eine Krankheit, ein Gedanke, der einen nicht mehr loslässt.
Ich habe meine Freundin sehr geliebt und sie ist der stärkste Mensch, den ich kenne. Trotzdem hat sie ihre Jugend, die sie in einer armen Familie verbracht hatte, nie überwunden.
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Geld spielt eine Rolle. Immer. Und eben besonders an Weihnachten.
Zu der Weihnachtstradition in ihrer Familie gehörte es, über Geld zu streiten. Eigentlich keine reine Weihnachtstradition, denn bei ihr wurde wohl oft über Geld gestritten. Direkt, wie indirekt.
Denn es geht nicht nur darum, darüber zu streiten, dass man zu viel für etwas ausgegeben hat, oder dass man nicht mehr genug Geld für etwas übrig hat – der Streit kommt einfach durch den Druck.
Armut ist ein ständiger Druck. Es ist eine Mischung aus Angst, Scham und Wut, die immer mitschwingt.
Daher wurde in ihrer Familie über jede Kleinigkeit gestritten. Auch wenn es augenscheinlich oft nicht um Geld ging, war Geldmangel immer der Auslöser.
An Weihnachten, wo fast alle in Deutschland üblichen Traditionen mit Geld zu tun haben, ist dieser Druck noch höher.
All die schönen Dinge, sie kosten Geld
Das gemeinsame Glühweintrinken, das Bummeln über den Weihnachtsmarkt, das gemütliche Familienessen. All die schönen Dinge, sie kosten Geld.
Und wenn man selbst nicht dran teilnehmen kann, dann ist der Druck mit voller Stärke da. Die Angst, so ein schönes Leben nicht zu verdienen. Die Scham, nicht so viel wert zu sein, wie die anderen. Die Wut darüber, von alledem ausgeschlossen zu sein.
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Weihnachten ist für arme Menschen ist im besten Fall ein Tag wie jeder andere, im schlimmsten Fall ist es eine reine Qual.
So war es bei uns auch. Egal, was ich über die Jahre an Weihnachten versuchte, immer tappte ich in eine Falle.
Das erste Geschenk war teuer und als Resultat stritten wir uns darüber, wie ich nur so viel Geld ausgeben konnte.
Das nächste war eine gemeinsame Aktivität, es kostete nicht viel und es ging eher darum, Zeit miteinander zu verbringen. Später am Abend weinte sie, sprach darüber, nichts wert zu sein und es endete wieder im Streit.
Wir waren einige Jahre zusammen und unsere besten Weihnachten waren die, die wir eigentlich gar nicht feierten.
Der Druck gewann an Weihnachten die Oberhand
Ich habe das damals nicht verstanden. Überhaupt habe ich vieles an ihr nicht verstanden. Unsere Biografien waren zu unterschiedlich und weil ich sie so liebte, war ich auch zu nah dran, um zu bemerken, was los war.
Ich hab das damals alles auf mich bezogen, dachte, sie würde mich nicht lieben oder ich hätte sie enttäuscht. Nur auf mich fixiert verlor ich sie aus den Augen.
Weihnachten ist für die meisten von uns, ein Fest der Familie. Es ist voller Emotion und Traditionen. Sie, die starke intelligente Frau, die in ihrem Studium eine Eins nach der anderen bekam und sich durch keinen Rückschlag aufhalten ließ, auch an ihr ging die besinnliche Zeit nicht vorbei.
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Der Druck, der sich über Jahre aufgebaut hat und den sie meistens im Griff hatte, gewann an Weihnachten die Oberhand. Sie fühlte sich nach den Streitereien immer doppelt schlecht, weil sie ja eigentlich nicht wie ihre Familie sein wollte.
Irgendwann trennten wir uns. Das hatte viele Gründe. Jetzt, mit mehr Abstand, sehe ich einige Dinge klarer. Wir sind noch immer befreundet, worüber ich sehr dankbar bin.
Doch es gibt auch eine Sache, für die ich nicht dankbar bin:
Weihnachten hat jetzt auch für mich immer einen bitteren Beigeschmack.
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Weihnachten in Armut: Morgen Kinder wird’s nix geben
Glühwein, Tannenbaumschmuck, Geschenke: Wer Weihnachten richtig feiern möchte, muss tief in die Tasche greifen. Besonders für ärmere Familien wird das besinnliche Fest so zu einem jährlichen Stresstest. In der HuffPost sprechen Hartz-IV-Bezieher, Obdachlose, Alleinerziehende und Sozialarbeiter davon, wie die Ärmsten der Ärmsten Weihnachten verbringen.
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(jg)
www.huffingtonpost.de/entry/hartz-iv-weihnachten-armut_de_5a3e7156e4b0b0e5a7a272b5
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