Ex-Staatschef Litauens: “Wir befinden uns in einem Krieg der Zivilisationen”
- Der ehemalige Staatschef Litauens glaubt, die westliche Politik ermuntere Kreml-Chef Putin zu neuen Aggressionen
- Der Held der Unabhängigkeit übt zudem massive Kritik an Deutschlands Altkanzler Schröder
“Wir befinden uns in einem Krieg der Zivilisationen, den die meisten im Westen nicht wahrhaben wollen und verdrängen”, klagt Vytautas Landsbergis (85), der erste Staatschef Litauens nach der Unabhängigkeit 1990: “Wir werden angegriffen. Von den Autokraten dieser Welt.”
Landsbergis hat maßgeblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen und genießt im Baltikum Legendenstatus. Im Gespräch mit der HuffPost Deutschland warnt der Ex-Staatschef vor einem “Angriff auf unsere Grundeinstellungen und Werte” und einem “Kampf zwischen Unmenschlichkeit und Menschlichkeit”.
“Sie lachen über Menschlichkeit”
“Unsere westliche Zivilisation steht für Menschlichkeit, zumindest strebt sie danach. Das geht auf ihre christlichen Wurzeln zurück”, sagt Landsbergis.
Die Gegner der westlichen, demokratischen Zivilisation – Autokraten wie Russlands Präsident Wladimir Putin – würden sie verhöhnen, kritisiert der Mitbegründer der litauischen Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis:
“Sie lachen über Menschlichkeit. Alles, was für sie eine Rolle spielt, ist Stärke und Gewalt. Und die eigenen Interessen. Und wir im Westen nehmen das weitgehend hin.”
So hätten EU und Nato nicht nur zugelassen, dass Putin die Ukraine angriff: “In Westeuropa wird auch verdrängt, dass zwei Millionen Ukrainer als Flüchtlinge ihre Heimat verlassen mussten. Viele von ihnen leben heute in Polen und Litauen. Aber das will keiner wissen, da schaut man lieber weg.“
“Tiefe Diskrepanz zwischen politischen Kulturen”
Landsbergis fordert, Politiker und Medien im Westen müssten sich die tiefe Diskrepanz zwischen den zwei politischen Kulturen bewusst machen.
“Auf der einen Seite eine Demokratie, in der die Macht verliehen wird, von den Wählern. Auf der andere Seite das Prinzip, dass eine Gruppe die Macht erobert und mit Land und Leuten tut, was immer sie gerade will, ohne Rücksicht auf die Menschen, auf Gesetze, auf Regeln“, sagt Landsbergis.
“Gorbatschow verstand nicht, warum wir an die Wähler dachten”
Landsbergis untermauert seine Thesen mit eigenen Erfahrungen im Unabhängigkeitskampf: “Gorbatschow hat uns, die litauische Führung, mehrfach aufgefordert, gegen die Interessen unserer eigenen Wähler zu handeln. Er verstand gar nicht, warum wir dazu nicht bereit waren, warum wir überhaupt an die Wähler dachten – denn er selbst war ja nicht in einer ehrlichen Wahl gewählt worden.”
Michail Gorbatschow war Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und der letzte Staatspräsident der Sowjetunion, bevor diese Ende 1991 zerfiel.
“Gorbatschow glaubte, unser Problem bestünde lediglich darin, wie wir einen Kurswechsel dem dummen Volk verkaufen können. Er hat sogar uns versprochen: ‘Wir helfen euch, etwas auszudenken, was ihr euren Leuten sagen könnt.’”, sagt Landsbergis.
“Wenn man dem Bösen entgegenkommt, tut man selbst Böses”
Die meisten westlichen Politiker verstünden diese Unterschiede nicht. Sie seien naiv und feige im Umgang mit Putin, und fürchteten sich, Verantwortung zu übernehmen, glaubt der konservative Politiker, der von 2004 bis 2014 im Europa-Parlament saß:
“Sie setzen auf Entgegenkommen, aber wenn man dem Bösen entgegenkommt, tut man damit selbst Böses. Auf Zeit zu spielen, zu versuchen, die Krise hinauszuschieben, ist hoch gefährlich, das lehrt uns die Geschichte.“
Der Westen müsse sich energisch gegen die Gefahren wehren, die von Moskau heute wie zu Sowjetzeiten wieder ausgingen, mahnt der frühere Musik-Professor, “gegen die Aggression, den Betrug, die Gewalt, die Hinterhältigkeit des derzeitigen russischen Systems“.
“Sieg um jeden Preis”
Diese Übel erstreckten sich sogar auf den internationalen Sport, etwa durch staatlich organisiertes Doping, so Landsbergis: “Siege, auch falsche, sind Putin wichtiger als Gewissen und ehrlicher Wettbewerb. Sieg um jeden Preis ist das Motto.”
Im Kreml sage man sich: “Diese Idioten und Schwächlinge im Westen werden das doch mit sich machen lassen und alles schlucken.”
Sogar die Vereinten Nationen seien kaum funktionsfähig, weil Russland mit seinem Veto verhindern könne, dass seine eigenen Aggressionen verurteilt werden. “In Russland wird das als Zeichen der Schwäche wahrgenommen“, so der Ex-Staatschef: “Putin fasst die Blockade der UN so auf, dass er grünes Licht für seine Aggressionen hat – sozusagen den amtlichen Segen.”
Russland hat im wichtigsten UN-Gremium, dem Sicherheitsrat, einen der fünf fest an bestimmte Staaten vergebenen Sitze inne – und kann mit seinem Veto jede Entscheidung blockieren.
So hatte das Gremium keine Chance, Russlands Annexion der ukrainischen Krim zu ahnden. Und im syrischen Bürgerkrieg steht Russland an der Seite des Diktators Baschar al-Assad und hat bereits zehn Resolutionen blockiert.
Landsbergis hält die russische Politik für ein auf Lügen gebautes System
Die Lüge sei eine Konstante von Moskaus Politik seit Sowjetzeiten, so Landsbergis: “Als bei uns in Wilna die Panzer auf die Menschen losfuhren und sie töteten, sagte der sowjetische Verteidigungsminister Jasow, es passiere doch gar nichts, es handle sich doch nur um Manöver. Zu einer Zeit, als das Fernsehen schon die Bilder zeigte, weltweit.“
Genauso verhalte sich Moskau auch heute noch, so der Ex-Staatschef: “Auf der Krim erlebten wir das Gleiche. Putin sagte, das sind nicht unsere Leute, das sind Unbekannte, Außerirdische. Und viele im Westen schluckten es, auch in den Medien. Statt sich laut hinzustellen und zu sagen, das ist Lüge, schweigt man lieber oder sagt, man wisse nichts Genaues.“
Anfangs hatte Putin bestritten, dass sich russische Soldaten auf der Krim aufhalten. Später gab er im Fernsehen zu, den völkerrechtswidrigen Schritt angeordnet zu haben.
Putin sei nur durch Gegenwehr zu stoppen
Stoppen, glaubt Landsbergis, könnte Putins Aggressionen nur die Demonstration von Stärke und Gegenwehr. “Aber wer so etwas nur fordert im Westen, wird als zu radikal verurteilt, als verantwortungslos. Das Paradoxe dabei ist, dass die gleichen Leute, die so urteilen, dem Aggressor nicht nur genau das verzeihen, sondern noch viel mehr. Und dass sie wegsehen.“
Er hielte es für richtig, wenn westliche Politiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Putin öffentlich sagen würden: “Hören Sie auf zu lügen! Hören Sie auf, in der Ukraine Krieg zu führen. Hören Sie auf, in Syrien Zivilisten zu bombardieren.“
Gerade das Leisetreten des Westens erhöhe die Gefahr einer russischen Aggression im Baltikum: “Es könnte dazu führen, dass man im Kreml zu dem Schluss kommt, der Westen würde einen Angriff auf uns schlucken, um Schlimmeres zu verhindern. Wer Putins Aggression kleinredet, spornt ihn geradezu zu neuen Angriffen an.“
“Schröder seit Langem in Diensten des Kremls”
Heftige Kritik übt der frühere litauische Staatschefin diesem Zusammenhang an Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD): “Der steht seit Langem in Diensten des Kremls, via Gazprom.”
Schröder war nach seiner politischen Karriere zu einer Tochterfirma des russischen Gas-Staatskonzerns Gazprom gewechselt und ist heute Aufsichtsratschefs des russischen Energieriesen Rosneft.
Landsbergis findet, man dürfe Schröders Äußerungen keine Beachtung schenken – “was aus seinem Mund kommt, kommt vom Kreml. Lieber sollte man direkt mit dem Kreml sprechen als mit Schröder, der nur ein Dolmetscher ist. Und die Leute betrügt, weil er so tut, als würde er als Deutscher sprechen. Aber er spricht nicht als Deutscher, sondern als Mann des Kremls.“
Rückfall in finstere Zeiten
In Russland sei heute genau wieder das entstanden, wogegen er und die Anhänger der Perestroika gekämpft hätten, glaubt Landsbergis.
Er verweist auf ein Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko, in dem der Dichter vor einer Wiedergeburt des Stalinismus gewarnt hatte, als dieser unter dem sowjetischen Politiker Nikita Chruschtschow in Verruf geriet und sein Leichnam aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz entfernt wurde.
“Jewtuschenko warnte uns, dass Stalin lebt, uns alle anschaut, und versucht, sich an alle zu erinnern, die gegen ihn waren, und sich rächen wird. Dass, wenn Stalin aus dem Grabe wiederauferstehen wird, die ganze Vergangenheit wieder mit ihm auferstehen wird. Genau das erleben wir heute.“
Putins System beruhe auf dem gleichen Gedankengebäude wie der Stalinismus: “Jeder, der Macht hat, und sei es auch nur ein bisschen, fühlt sich als Gott, glaubt, er habe keinerlei Verantwortung, und könne auch nie zur Rechenschaft gezogen werden. Er agiert ohne Gewissen. Und wird so auf seine Art zum Monster.“
Ein bisschen Hoffnung
Landsbergis sieht aber trotz allem Kritik Hoffnungsschimmer.
Lange habe es so ausgesehen, als ob “der erschrockene Westen langsam kapituliere“, und die Putinversteher – für Landsbergis “Leute, die gegen die Werte und Prinzipien des Westens arbeiten“ – die Oberhand gewinnen.
Inzwischen gebe es aber Anzeichen für ein langsames Erwachen – etwa das Magnitskij-Gesetz in den USA, das Sanktionen gegen russische Beamte und Politiker festsetzt, die an Verbrechen beteiligt sind.
Und gerade die Ereignisse im Sport hätten vielen Menschen die Augen geöffnet über den wahren Charakter des Systems Putin, glaubt der frühere Staatschef: “Diese frechen Betrüger durften nicht zugelassen werden zur Olympiade. Und es ist erstaunlich, dass das Olympische Komitee dazu noch den Mut hatte. Das ist ein Hoffnungsschimmer.“
Zur Person: Vytautas Landsbergis,
geboren 1932, war von 1978 bis 1990 Professor an der Musikakademie in Wilna.
1990 war er einer der Mitbegründer der litauischen Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis, später deren Vorsitzender. Als solcher wurde er zur Symbolfigur und zum Vorkämpfer für das Streben nach Unabhängigkeit der baltischen Länder, die Moskau seit Ende des Zweiten Weltkrieges besetzt hielt.
Landsbergis musste in dieser Zeit mit einer Festnahme, langjährigen Inhaftierung und sogar Ermordung rechnen. Auf die Frage, ob er keine Angst gehabt habe, antwortet er: “Nein. Wovor? Mehr als mich erschießen konnten sie mir nicht antun.“
Am 13. Januar 1991, dem „Blutsonntag von Wilna“, wurden durch den Einsatz sowjetischer Truppen unter dem Oberbefehl von Michail Gorbatschow 14 Demonstranten für die Unabhängigkeit von Panzern überrollt und erschossen; mehr als 1000 Menschen wurden verletzt.
Als Parlamentspräsident wurde Landsbergis Staatschef von Litauen, das Amt hatte er von März 1990 bis November 1992 inne. Von 1996 bis 2000 war er erneut Parlamentspräsident, allerdings in dieser Funktion nicht mehr Staatschef.
Von 2004 bis 2014 war er Mitglied des Europaparlaments.
(sk)
You Might Like