Eine Politologin blickt auf Deutschland – und sieht nur absurdes Theater
- Manche EU-Politiker in Brüssel und Konservative in der CDU erwarten grundlegende Änderungen in Europa durch die neue GroKo
- Die Politologin Ulrike Guérot sieht die Koalition dagegen skeptisch
Ein Gespenst geht um im politischen Berlin – das Gespenst der Transferunion.
Die konservativen Politiker in der Union fürchten, dass mit der Neuauflage der Großen Koalition die Geldschleusen in Europa geöffnet werden. Von Umverteilung und einem Ende der Haushaltdisziplin ist die Rede.
Auch die deutsche Tageszeitung die “Welt” titelte an diesem Freitag: “Schleichend in die Transferunion – und die Union merkt es kaum”.
Ausländische Medien und die EU-Kommission dagegen haben sich nach dem Ende der Sondierungen über die GroKo gefreut – und die Ergebnisse als Aufbruch zu einer Erneuerung der Europäischen Union interpretiert.
Die deutsche Politologin Ulrike Guérot kann die Aufregung allerdings nicht verstehen. Wenn sie auf die möglichen vier Jahre GroKo blickt, sieht sie keine Umverteilung in Europa.
Sondern eher absurdes Theater à la Samuel Beckett.
Große GroKo-Sprünge? Das ist “Wunschdenken”
“Ich verstehe nicht, wo der Hype herkommt”, sagt Guérot dem Online-Magazin “Politico” dagegen. Sie lehrt an der österreichischen Donau-Universität Krems und ist Gründerin des Berliner Thinktanks European Democracy Lab (EDL).
Dass die GroKo große Sprünge für die EU bedeuten werde, hält sie für “Wunschdenken”.
► Guérots Argument im Gespräch mit “Politico”: Die Deutschen würden von der GroKo gar keine tiefergehende europäische Integration verlangen, daher werde die neue Regierung sie auch nicht durchsetzen. Dafür sei sie nicht gewählt worden.
Guérot: “Das ist wie ‘Warten auf Godot’”
Die Bundesregierung habe “die Öffentlichkeit über die Wirklichkeit in Europa in den vergangenen fünf Jahren belogen”, sagt die Politikwissenschaftlerin. Und stellt klar: “Das Resultat davon ist: Deutschland ist nicht in der Position, über die großen Fragen zu entscheiden.”
Guérot glaubt, dass mit einer Koalition aus Union und SPD die großen Visionen zu einem Neuanfang in Europa ausbleiben werden. “Das ist wie ‘Warten auf Godot’”, sagte die Politologin in Anspielung auf das berühmte Theaterstück des irischen Schriftstellers Beckett.
In dem Stück, das zum absurden Theater gezählt wird, sind die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir zu einem langen und sinnlosem Warten verdonnert. Denn der erwartete Godot wird nicht auftauchen.
Die ausbleibende Antwort aus Berlin
Auch die EU wartet schon lange auf eine Antwort auf die EU-Reformvorschläge. Immerhin zieht sich die Regierungsbildung nun schon seit über vier Monaten hin.
Kurz vor der Bundestagswahl hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Vision für Europa vorgestellt, wenig später folgte die EU-Kommission mit eigenen Vorschlägen.
Im Gespräch sind unter anderem ein eigener Investitionshaushalt für Europa, ein EU-Finanzminister mit eigenem Budget und der Umbau des gegenwärtigen Euro-Rettungsfonds ESM zu einem Europäischen Währungsfonds, der Krisenländern helfen soll.
Vor allem der letzte Vorschlag sorgt für Aufregung bei der CDU. “Mit dem Europa-Programm wird das Tor weit geöffnet für noch mehr Schulden in Europa”, sagte der Generalsekretär des Wirtschaftsrats der CDU, Peter Steiger, über die GroKo-Sondierungen kürzlich.
► Aber am Ende könnte Guérot Recht haben, blickt man auf die bisherigen Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen in der Europapolitik. Denn die sind vor allem eines: schwammig.
Mehr zum Thema: Bisher ist die SPD in den GroKo-Verhandlungen gescheitert – mit einer Ausnahme
Keine substanzielle Agenda zu erwarten
Der Koalitionsvertrag werde “den Willen zu einem neuen Aufbruch in Europa signalisieren”, versprach SPD-Chef Martin Schulz am Mittwoch. Doch die Pläne bleiben vage.
► Als beschlossen gelten unter anderem höhere Beiträge zum EU-Haushalt – was der EU-Finanzkommissar Günther Oettinger (CDU) ohnehin wegen des baldigen Ausscheidens Großbritanniens aus der EU gefordert hatte.
► Und eben die Entwicklung eines Europäischen Währungsfonds. In einer heiklen Fraktionssitzung am Dienstag soll Merkel laut der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” klargestellt haben, dass der Fonds im Unionsrecht verankert werde – und damit die nationalen Parlamente ein entscheidendes Mitspracherecht haben werden.
Für ein Herzensprojekt ist Europa im Koalitionsvertrag nicht konkret genug. Gut möglich also, dass “Estragon” Macron und “Wladimir” Juncker noch ewig auf ihren Godot in Gestalt von Angela Merkel mit einem visionären EU-Reformprogramm in der Hand warten müssen.
Die Union und die SPD, so argumentiert die Politologin Guérot, seien zu zerstritten, um eine “substantielle Europa-Agenda” vorzulegen.
Was bleibt, ist absurdes Theater.
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