Zwei-Klassen-Justiz: Vor Gericht werden arme Menschen behandelt wie im Mittelalter
- Für Menschen, die ihre Geldstrafen nicht bezahlen, hält die deutsche Justiz eine mittelalterliche Strafe bereit
- Besonders prekär ist die Regelung für arme Menschen
Es ist schon einige Zeit her, da kam jemand, der seine Schulden nicht mehr zahlen konnte, in ein ganz besonderes Gefängnis: im Volksmund Schuldturm genannt.
Im Mittelalter und noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verhängte die Justiz in Deutschland die Schuldhaft. In Nürnberg ist der Turm noch zu sehen. Ein Ort, an dem Menschen de facto dafür eingesperrt wurden, dass sie arm waren.
Tausende Menschen sitzen in Deutschland eine Ersatzfreiheitsstrafe ab
Doch auch heute muss man nicht auf einen anderen Kontinent, ja noch nicht einmal in ein anderes Land blicken, um Menschen zu finden, die schlicht wegen ihrer Armut und widriger Lebensumstände im Gefängnis sitzen. Vermutlich reicht schon ein Blick in die JVA Nürnberg.
Denn Tausende Menschen sitzen in Deutschland eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe ab, ohne dass sie zu einer Freiheitsstrafe, ja noch nicht einmal zur Bewährung, verurteilt wurden. Ihnen wurde lediglich eine Geldstrafe auferlegt. Diese konnten sie jedoch nicht zahlen, weshalb die Justiz die Geldstrafe ersatzweise in eine Freiheitsstrafe umgewandelt hat.
Wird etwa ein Angeklagter zu 30 Tagessätzen á 20 Euro verurteilt, müsste er einen kompletten Monat in Haft, wenn er die 600 Euro nicht aufbringen kann.
Ein großer Teil dieser Ersatzfreiheitsstrafen wurde wegen Schwarzfahrens verhängt. Auch Ladendiebe, also mitunter wohl auch Menschen, die in ihrer Not Lebensmittel gestohlen haben, sind in großer Zahl betroffen.
Wer Geld hat, kann sich oft freikaufen
In der Regel sind es Geringverdiener oder Arbeitslose – also Menschen, die im nach Ansicht vieler Politiker so reichen Deutschland schlicht zu arm waren, um sich die verhängte Geldstrafe leisten zu können.
Im Bundesdurchschnitt belegen Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafe einer Recherche des “Westdeutschen Rundfunks” (WDR) zufolge inzwischen rund 10 Prozent der regulären Haftplätze. Allein in Bayern stieg deren Anteil demnach um 65 Prozent in nur zehn Jahren.
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Von einer Schuldhaft spricht heute zwar keiner mehr: Doch etwas anderes ist sie nicht. Aufs Jahr gerechnet Tausende Schwarzfahrer sitzen ein, weil sie ihre Schulden beim Staat nicht begleichen konnten.
Und wären sie nicht arm, wären viele von ihnen nicht ohne Ticket gefahren. Wohl fast niemand sehnt sich danach in der Straßenbahn öffentlich bloß gestellt zu werden. Überdies können es sich Wohlhabende anders als Arme leisten, wenn sie ohne Fahrschein erwischt werden, das erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro sofort zu bezahlen – die Bereitschaft einer Anzeige durch die Verkehrsbetriebe dürfte gegenüber ihnen geringer ausfallen.
200 Millionen Euro für den Steuerzahler
Fakt ist: Wer etwa in der Bundeshauptstadt drei Mal ohne gültigen Fahrschein ertappt wird, muss mit einer Strafanzeige rechnen. Im Berliner Skandal-Knast Plötzensee verbüßen bis zu einem Drittel der Insassen “Ersatzfreiheitsstrafen”.
Ein teurer Irrsinn: 200 Millionen Euro kosten die Ersatzfreiheitsstrafen den Steuerzahler jedes Jahr bundesweit, vom menschlichen Elend der Häftlinge und ihrer Familien ganz zu schweigen.
Im Schnitt dauert eine Ersatzfreiheitsstrafe vier Wochen. Wer wegen dieser erzwungenen Auszeit hinter Gittern Arbeit oder Wohnung verliert, dem droht der soziale Absturz.
Auch aus diesem Grund verurteilen Gerichte normalerweise niemanden zu Haftstrafen von wenigen Monaten – und setzen diese, wenn sie sie als Warnschuss doch verhängen, zumeist auf Bewährung aus.
Ersatzfreiheitsstrafen bringen manche erst auf die schiefe Bahn
Ersatzfreiheitsstrafen reißen die Betroffenen aus ihrem Leben, so mancher verliert seinen Job – manche Familie wird zerstört. Klar ist: Das Leben eines mehrfach beim Schwarzfahren erwischten Hilfsarbeiters wird nach einem halben Jahr im Gefängnis sicher nicht erfolgreicher verlaufen.
Sozialarbeiter kritisieren zudem, dass der Tagessatz manchmal zu hoch angesetzt werde, etwa, weil dem Gericht die Geldverhältnisse des Verurteilten nicht bekannt seien.
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Ein weiteres Problem: Setzt das Gericht die Geldstrafe nach dem Netto-Einkommen fest, kann dies einen Empfänger von Hartz IV oder einen Niedriglöhner schnell überfordern, wenn er auch noch einen Kredit offen hat.
Und wer bereits insolvent ist, muss das Geld sogar von seinem eigentlich nicht pfändbaren Existenzminimum abknapsen.
Mittelalterliches Recht ist bestehen geblieben
Völlig zurecht ist das Instrument der Ersatzfreiheitsstrafe zuletzt in die Kritik geraten. Nicht nur moralische, auch rechtliche Gründe sprechen dafür, es ganz abzuschaffen. Denn die Ersatzfreiheitsstrafe stellt einen Fremdkörper in unserem Rechtssystem dar.
Kann ein Verbraucher seine Schulden nicht mehr bezahlen, kann er Privatinsolvenz anmelden und nach einigen Jahren schuldenfrei sein. Hier kommt der Staat dem säumigen Zahler entgegen.
Er darf sich über das Insolvenzverfahren entschulden. Während des Insolvenzverfahrens bleibt dem Schuldner regelmäßig das pfändungsfreie Einkommen.
Es spielt keine Rolle, ob er die Verbindlichkeiten bei einer Bank, einem Shopping-Kanal, einem Bekannten oder sogar dem Finanzamt hat. All diese Forderungen werden im Rahmen des Privatinsolvenzverfahrens abgewickelt.
Forderungen, die sich aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen ergeben, und Geldstrafen sind dagegen nicht Teil des Insolvenzverfahrens. Der Schuldner muss sie unabhängig vom Insolvenzverfahren zahlen. Aber nicht genug damit.
Wer seine Geldstrafe nicht zahlen kann, der kommt regelmäßig ins Gefängnis. Und genau an dieser Stelle ist mittelalterliches Recht bestehen geblieben.
Wenn das Konto nun einmal leer ist, ist es leer
Rechtlich betrachtet liegt kein besonders strafwürdiges Verhalten in dem Unterlassen der Zahlung einer Geldstrafe im Vergleich zum Nichtbegleichen einer sonstigen privaten Schuld vor. Wenn das Konto nun einmal leer ist, ist es leer – egal, wer der Gläubiger ist.
Doch vom Strafgericht ausgewählte Gläubiger werden gegenüber anderen privilegiert. Eine bestimmte Gruppe von Schuldnern, meist Arme, wird wiederum im Vergleich zu anderen benachteiligt. Eine solche Ungleichbehandlung heißt in der Juristen-Sprache Wertungswiderspruch.
Es ist offensichtlich: Die gängige Praxis der Ersatzhaftstrafen passt nicht in einen Rechtsstaat, der von sich sagt, alle seien vor dem Gesetz gleich.
Kinder reicher Eltern sind oft nach drei Jahren schuldenfrei, Arme brauchen in der Regel sechs Jahre.
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Doch auch im Insolvenzrecht gibt es eine massive Ungerechtigkeit, die zu Lasten Armer geht. Denn der Gesetzgeber kommt dem Schuldner entgegen, der reiche Verwandte hat. Seit 2014 können insolvente Verbraucher schon nach drei Jahren neu starten, wenn sie innerhalb dieses Zeitraums mindestens 35 Prozent der Gläubigerforderungen und die Gerichts- und Insolvenzverwalterkosten zahlen können.
Diese Möglichkeit wird allerdings kaum genutzt. Denn kaum ein Schuldner kann diese Summe aufbringen. Anders sieht es aus, wenn jemand ein Kind reicher Eltern ist.
Es erinnert an Zeiten, in denen die Herkunft bestimmte
Den Empfänger von Hartz IV oder Geringverdiener hatte der Gesetzgeber bei dieser Gesetzesänderung wohl nicht im Blick. Nach fünf Jahren ist schuldenfrei, wer zumindest die Verfahrenskosten zahlen kann – doch auch das überfordert viele Arme. Sie gehören zu der großen Zahl von Schuldnern, die im Rahmen ihrer Privatinsolvenz erst nach sechs Jahren schuldenfrei sind.
Voraussetzung ist hierbei zudem immer, dass es keine Gründe gibt, demjenigen die Befreiung von den noch offenen Schulden (die sogenannte „Restschuld“) zu versagen.
Ein Pleitier, der aus reichem Hause kommt, wird also meist deutlich früher schuldenfrei als jemand, dessen Eltern schon arme Schlucker waren – auch dies erinnert ein wenig an Zeiten, in denen in besonderem Maße die Herkunft bestimmte, wie es einem vor dem Kadi erging.
Nach unserem Grundgesetz sind zwar alle Menschen gleich. Aber um es mit George Orwell zu sagen, sind auch im deutschen Rechtssystem einige gleicher als gleich. Anders lässt es sich nicht erklären, wieso keine Möglichkeit geschaffen wurde, das Insolvenzverfahren zu verkürzen, die an andere Voraussetzungen geknüpft wurde, als die bloße Zahlung von Geld.
Reiche haben die bessere anwaltliche Vertretung
Denn selten ist es dem Schuldner möglich, diese Zahlung aus eigener Kraft zu leisten. Aus welchen Gründen es beispielsweise zur Insolvenz kam oder welche Bemühungen der Schuldner zur Begleichung der Schulden übernommen hat, spielt dagegen keine Rolle.
So gibt es keinerlei Vergünstigung dafür, dass eine Privat-Pleite gänzlich unverschuldet erfolgt ist. Für den Gesetzgeber macht es keinen Unterschied, ob jemand aufgrund einer plötzlichen Krankheit, eines behinderten Kindes, eines Unfalls, eines Pflegefalls in der Familie, einer plötzlichen Mieterhöhung oder wegen Arbeitslosigkeit auf einmal seine Schulden nicht mehr bedienen konnte oder, ob er einfach nur über seine Verhältnisse gelebt hat.
Auch anderweitig gibt es vor Gericht oft ein Ungleichgewicht. Selbst Normalverdiener können ihre Anwälte nur nach Gebührenordnung bezahlen, Reiche oder Konzerne können sich dagegen Anwälte mit Hunderten Euro Stundenhonorar leisten.
Auch die Rechtsschutzversicherung zahlt nur die Kosten nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG). Wer mittellos ist, kann zwar Prozesskostenhilfe beantragen, doch die Bürokratie ist mitunter erheblich, der Nachweis, wenn man nicht gerade Hartz-IV-Empfänger ist, nicht immer leicht.
Was ist nun der Vorteil, wenn man es sich leisten kann, eine Kanzlei zu beauftragen, die einen hohen Stundensatz verlangt? Wenn Geld für die Beratung oder Verteidigung keine Rolle spielt, werden oft ein mehrfaches an Stunden aufgewandt als es ein Mandat auf Basis des RVG wirtschaftlich zulassen würde.
Dies führt immer häufiger dazu, dass diese teuren Kanzleien die Gerichte mit Leitz-Ordnern an Schriftsätzen und Beweisanträgen bombardieren, sodass die Gerichte es nicht schaffen, diese fristgerecht zu bearbeiten. Was heißt das für den reichen Angeklagten: Er kann nicht verurteilt werden. Er ist frei. Einfach wegen Überlastung der Justiz.
Arme kommen im Knast erst richtig auf die schiefe Bahn
Ebenfalls schwerwiegend sind die Folgen des Zwei-Klassen-Rechtssystems im Strafrecht: Spricht man mit Menschen, die sich mit dem Strafvollzug auskennen, wird schnell klar: Ersatzhaftstrafen führen so machen erst auf die schiefe Bahn.
In vielen Gefängnissen sind Drogen allgegenwärtig, Kleinkriminelle geraten zudem leicht in Kontakt zu Schwerverbrechern, vor allem jedoch verlieren sie ihre Jobs und Familien zerbrechen. In vielen anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Schweden unterliegt die Ersatzfreiheitsstrafe strengen Voraussetzungen und wird deshalb weit seltener als hierzulande verhängt.
Zwar besteht grundsätzlich in Deutschland die Möglichkeit, dass die Schwarzfahrer und Kleinstkriminelle, Ersatzhaftstrafen durch soziale Arbeit abwenden können. Doch viele der Betroffenen haben psychische oder gesundheitliche Probleme, sind deshalb dazu in der Lage.
Einzelne Projekte helfen Betroffenen dabei, ihre Sozialstunden erfolgreich zu leisten – fast alle Teilnehmer schaffen es so, die Haft erfolgreich abzuwenden. Doch die Helfer erreichen nur einen kleinen Teil der Betroffen, es fehlt an staatlichen Mitteln.
Besser wäre ohnehin, Ersatzfreiheitsstrafen gleich ganz abzuschaffen: Die Europäische Menschenrechtskonvention Artikel 1 des Protokolls Nr. 4 zur Menschenrechtskonvention verbietet die Schuldhaft. Staatliche Forderungen sind davon zwar ausgenommen, aber dies ist nicht mehr zeitgemäß.
Geldstrafen führen zu Fremdenhass
Die Wirkung auf unsere Gesellschaft durch die Schuldhaft ist jedenfalls fatal: Manager und Superreiche, die unser Land um Milliarden prellen, kommen mit ihren Gaunereien davon oder sitzen kaum länger als ein Schwarzfahrer.
So sitzt etwa ein Mann in NRW derzeit zehn Monate Ersatzstrafe ab, weil er oft keine Fahrkarte bei sich hatte. Ex-Post-Chef Klaus Zumwinckel, der im großen Stil Steuern hinterzogen hatte, musste dagegen keinen einzigen Tag ins Gefängnis. Das Gericht verurteilte ihn 2009 zu zwei Jahren auf Bewährung und einer Geldbuße von einer Million Euro. Er konnte sich also freikaufen.
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Zumindest müsste als erster Schritt das Schwarzfahren entkriminalisiert werden. Das fordert längst nicht mehr nur die Linke. Auch der Richterbund und der CDU-Justizminister im NRW wollen den Wahnsinn, der ganz nebenbei unsere Gerichte und Gefängnisse weiter überlastet, beenden. Die Streichung anderer Bagatelldelikte wäre auch erforderlich.
Zuletzt führten Geldstrafen für sozial schwache Einheimische zudem auch zu mehr Fremdenhass. Mehrere Kommunen wie Berlin hatten während der Hochzeit der Flüchtlingskrise Flüchtlinge teils umsonst fahren lassen, gegen länger hier lebende Migranten und Deutsche, die keine Tickets hatten, war man jedoch unerbittlich vorgegangen. Eine bessere Wahlhilfe konnte sich die AfD kaum wünschen.
Wer arm ist, hat weniger Rechte
Doch bei den Geldstrafen geht es schlicht auch um den schnöden Mammon und nicht nur um Gerechtigkeit: Bundesweit verhängen Gerichte jährlich mehr als 500.000 Geldstrafen.
Die Richter entscheiden weitgehend frei, wohin die immensen Summen fließen. Manche hatten deshalb geradezu ein Eigeninteresse, möglichst hohe Strafen zu verhängen. Richter hätten ihnen persönlich verbundene Organisationen bevorzugt und große Einrichtungen ein professionelles Bußgeldmarketing auf Kosten kleinerer Vereine betrieben, kritisierte das niedersächsische Landesjustizministerium im vergangenen Sommer.
Doch vielleicht ist es ja in Deutschland doch noch so wie im Mittelalter: Wer arm ist, hat weniger Rechte als die Reichen.
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